Manchmal tragen wir in uns eine kleine Stimme aus der Vergangenheit, die uns lenkt, beeinflusst und auch herausfordert: unser inneres Kind. Es steckt voller Erinnerungen, Gefühle und alten Glaubenssätzen, die in der Kindheit entstanden sind und unser heutiges Leben prägen. Doch was genau ist das innere Kind? Und wie kannst du lernen, liebevoll mit diesem Anteil in dir umzugehen?
Genau darüber habe ich mit Sylvia Tornau, einer erfahrenen systemischen Therapeutin und Traumacoach, gesprochen. In unserem Gespräch erklärt Sylvia, warum es so wichtig ist, sich mit dem inneren Kind auseinander zu setzen, und wie du Schritt für Schritt den Kontakt zu deinem inneren Kind herstellen kannst, z.B. mit der von ihr entwickelten Herzbriefmethode.
Wenn du dich fragst, wie du alte Verletzungen heilen und neue Wege für dich entdecken kannst, dann begleite mich in diesem inspirierenden Austausch.
Sylvia Tornau: Eine Expertin mit Herz und Tiefe
Bevor wir ins Thema einsteigen, möchte ich dir Sylvia Tornau vorstellen: Sie ist nicht nur systemische Therapeutin, sondern auch Traumacoach mit einem besonderen Fokus auf traumasensible Arbeit. Sylvia bringt eine große Portion Empathie mit, die aus ihrer eigenen Erfahrung mit sexueller Gewalt in der Kindheit und Jugend erwächst. Das macht sie zu einer starken und authentischen Begleiterin für Menschen, die alte Verletzungen heilen möchten.
Was ich an Sylvia Tornau besonders schätze, ist ihre offene Haltung. Sie begegnet Menschen ohne Vorurteile oder Bewertungen. Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht immer. Außerdem ist sie nicht nur Coach und Therapeutin, sondern auch eine kreative Bloggerin und Autorin, die sogar einen Krimi geschrieben hat. Das ist eine spannende Mischung, die Sylvia sehr lebendig und nahbar macht.
Wir haben uns vorgenommen, das Thema „inneres Kind“ ganz praktisch und verständlich zu erkunden. Sylvia war anfangs selbst skeptisch, als sie zum ersten Mal davon hörte, aber sie hat dann ihre Sichtweise im Laufe der Zeit verändert. Denn das innere Kind ist mehr als nur ein Konzept. Es ist ein Schlüssel, um alte Muster zu erkennen und sich selbst mit mehr Mitgefühl zu begegnen.
Was ist das innere Kind und warum ist es so wichtig?
Sylvia beschreibt das innere Kind als ein Symbol für die Verletzungen und Muster, die wir als Kinder entwickelt haben, um mit schwierigen Situationen umzugehen. Diese Muster waren damals oft lebenswichtig, um seelischen Schmerz abzufedern oder uns vor weiterem Leid zu schützen. Doch im Erwachsenenalter können sie uns daran hindern, authentisch und frei zu leben.
„Für mich ist das innere Kind ein Muster, das unsere alten Verletzungen in sich trägt und die daraus entstandenen Verhaltensweisen symbolisiert„, erklärt Sylvia.
Sie erzählt, dass viele dieser Muster zwar einst schützend waren, heute aber zu Einsamkeit oder Rückzug führen können. Ein Beispiel aus ihrem Coaching zeigt das deutlich: Ein Vater fühlt sich verletzt, als seine Tochter lieber mit einer Freundin als mit ihm Zeit verbringt. Seine kindlich beleidigte Reaktion stammt nicht vom Erwachsenen-Ich, sondern von einem verletzten inneren Kind, das sich nicht gesehen fühlt.
In Familien spielen diese unbewussten Dynamiken eine große Rolle. Erwachsene sprechen auf der Verstandesebene miteinander, während ihre inneren Kinder emotional reagieren und dies oft verletzt, wütend oder enttäuscht. Das kann zu Missverständnissen und wiederkehrenden Konflikten führen, die sich über Generationen fortsetzen.
Überlebensmuster aus der Kindheit: Schutz und Belastung zugleich
Das innere Kind gehört zu einem inneren System, das auf Überleben und Schutz ausgerichtet ist. Die Muster, die wir in der Kindheit entwickelt haben, sollten uns damals Sicherheit geben. Sylvia erklärt, dass sie meist unbewusst entstanden sind als automatische Reaktion des Nervensystems.
Ein Kind, das mit einer explosiven Mutter und einem verschlossenen Vater aufwächst, lernt, beide Extreme in sich zu tragen. Manche Menschen finden daraus später einen ungesunden Mittelweg, andere übernehmen genau diese Extreme abhängig von ihrer Prägung und Umgebung.
Diese Dynamiken zeigen, wie stark das innere Kind unsere Persönlichkeit formt und wie wichtig es ist, sie bewusst zu verstehen.
Wie du den Kontakt zu deinem inneren Kind herstellen kannst
Der Weg zum inneren Kind ist ein heilender Prozess. Sylvia empfiehlt, zunächst durch Bücher oder Journaling in das Thema einzutauchen und dann mit der Herzbriefmethode zu beginnen, also einen Brief an dein inneres Kind zu schreiben.
Dabei schreibst du aus der Perspektive deines heutigen Ichs an dein früheres Ich – vielleicht an das dreijährige, siebenjährige oder zwölfjährige Kind. Du kannst ausdrücken, was du damals gebraucht hättest, was dich verletzt hat oder worauf du heute stolz bist.
„Briefeschreiben hat etwas mit Bewegung zu tun. Es ist eine Energie, die aus meinem Körper rausfließt auf Papier oder Tastatur„, sagt Sylvia.
Diese Methode hilft, dich mit deinem inneren Kind zu verbinden, Mitgefühl zu entwickeln und dich selbst liebevoll anzunehmen.
Tipp von Sylvia:
„Schreib deinem inneren Kind einen Brief. Erlaube dir, all das auszudrücken, z.B. Freude, Traurigkeit oder Wut. So entsteht eine Verbindung, die Heilung möglich macht.“
Wenn das innere Kind wütend oder traurig ist
Manchmal tauchen alte Emotionen plötzlich auf, z.B. Wut, Traurigkeit oder Angst. In solchen Momenten rät Sylvia: Mach eine Pause zwischen Reiz und Reaktion.
Atme tief durch, bevor du reagierst und frag dich:
– „Was macht mich gerade so wütend?“
– „Welches Bedürfnis steckt dahinter?“
Oft sind es unerfüllte Bedürfnisse aus der Kindheit, die uns triggern. Wenn du dir Zeit nimmst, sie zu erkennen, kannst du dich selbst beruhigen und gesünder reagieren.
Sylvia empfiehlt auch, ehrlich zu kommunizieren, wenn du Raum brauchst: „Ich muss kurz raus, sonst sage ich etwas, was ich nicht meine.“ Das schütz nicht nur dich, sondern auch deine Beziehungen.
Welches innere Kind spricht gerade?
Eine spannende Frage ist, welcher Anteil in dir ist gerade aktiv?
Wenn du überreagierst, dich klein fühlst oder dich verletzt zurückziehst, dann ist vermutlich ein jüngerer Teil von dir am Werk. Sylvia schlägt vor, der Spur deiner Emotionen zu folgen: Wann hast du dich das letzte Mal so gefühlt? Vielleicht findest du dich plötzlich in einer Erinnerung wieder, die du längst vergessen hattest.
Diese bewusste Innenschau hilft dir, dein inneres Kind zu erkennen und anzunehmen, ohne dich zu verurteilen. Denn es geht nicht darum, alte Muster zu bekämpfen, sondern sie liebevoll zu verstehen.
Die Herzbriefmethode ist dein Werkzeug zur Selbstheilung
Auf ihrem Blog teilt Sylvia Tornau eine kostenlose Anleitung zur Herzbriefmethode: eine einfache, aber tiefgehende Übung, um mit dem inneren Kind in Kontakt zu kommen.
Der Brief ist kein Wundermittel, sondern ein erster Schritt, ein Moment der Bewusstwerdung, des Mitgefühls und der Versöhnung.
„Wenn ich mir vorstelle, dass das innere Kind ein Anteil von mir ist, den ich vielleicht nicht mag, kann ich viel leichter Mitgefühl aufbringen„, sagt Sylvia.
Trigger verstehen ist ein liebevoller Blick nach innen
Ein weiterer Tipp von Sylvia:
„Wenn dich das Verhalten von Kindern in deinem Umfeld nervt, schau genau hin, das ist oft dein eigener Trigger. Es hat nichts mit dem Kind zu tun, sondern mit dir selbst.“
Solche Momente sind Chancen zur Selbsterkenntnis. Sie zeigen dir, wo noch alte Wunden heilen dürfen.
Fazit: Das innere Kind ist der Schlüssel zu Heilung und Selbstliebe
Die Arbeit mit dem inneren Kind ist eine Reise zu dir selbst, zu deinen Wurzeln, Gefühlen und Schutzmustern. Es geht nicht darum, die Vergangenheit zu ändern, sondern den Umgang mit ihr zu verändern.
Wenn du dein inneres Kind erkennst, verstehst und annimmst, kannst du alte Muster auflösen und dich selbst mit mehr Liebe und Freiheit begegnen.
Für mich war dieses Gespräch mit Sylvia Tornau eine wertvolle Erinnerung daran, wie wichtig Selbstmitgefühl und Achtsamkeit sind, gerade in schwierigen Momenten. Dein inneres Kind möchte gesehen, verstanden und gehalten werden. Wenn du ihm diese Aufmerksamkeit schenkst, kann Heilung geschehen.
Ich lade dich ein, selbst zu beginnen: Schreib deinem inneren Kind einen Brief. Vielleicht entdeckst du dabei einen Schatz, der dir hilft, dich selbst besser zu verstehen.
Was würde dein inneres Kind dir heute sagen und wie möchtest du ihm antworten?



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